Interview mit Dr. Irene Sommerfeld Stur
Einleitung
Frau Prof. Dr. Irene Sommerfeld-Stur ist eine österreichische Populationsgenetikerin. Sie gilt als Expertin auf dem Gebiet der Hundezucht und hat 2016 das Buch “Rassehundezucht, Genetik für Züchter und Halter” veröffentlicht. Seit dem Abschluss ihres veterinärmedizinischen Studiums bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2012 hat sie am Institut für Tierzucht der Veterinärmedizinischen Universität Wien gearbeitet und sich dort bevorzugt mit Fragen der kynologischen Genetik beschäftigt.
Das Buch “Rassehundezucht, Genetik für Züchter und Halter” ist sehr sinnvoll in 12 Kapitel aufgeteilt, die jeden wichtigen Wissensbereich der Hundezucht, von der Domestikation über genetische Grundlagen, Molekulargenetik, Verhaltensgenetik bis zur Populationsgenetik, Erbfehler und auch dem Bereich der Qualzuchten, abdecken. Jedes Thema wird mithilfe von Bildern und Grafiken leicht verständlich erklärt, die es am Ende dem Leser ermöglicht, einen tieferen Einblick in die komplexen Zusammenhänge der Hundezucht zu erhalten.
Interview
Frage: Frau Prof. Dr. Irene Sommerfeld-Stur, seit ich angefangen habe mich mit dem Gedanken des Züchtens intensiver zu beschäftigen habe ich unzählige wissenschaftliche Publikationen und einige Bücher zu dem Thema gelesen. Und je mehr ich gelesen und gelernt habe, desto bewusster wurde mir die grosse Verantwortung, die ich als Züchter für meine belastete Rasse trage.
Die vielen teils sehr komplexen Zusammenhänge und Probleme, mit denen wir uns in der Hundezucht konfrontiert sehen, haben Sie auf eine einzigartige und für jeden verständliche Art und Weise in Ihrem Buch zusammengefasst. Sie haben es geschafft ein Sachbuch zu schreiben, was man nicht nach ein paar Seiten mit Kopfschmerzen zur Seite legt, sondern ein Buch, was zum ständigen Weiterlesen anregt. Und auch wenn Sie teilweise sehr kritisch einzelne Bereiche betrachten, so doch nicht verurteilend, das hat mich sehr beeindruckt.
Wie lange haben Sie gebraucht dieses Buch zu schreiben und was war Ihre Motivation dies zu tun?
Antwort: Das Buch hat mich etwa eineinhalb Jahre lang beschäftigt. Mit Pausen in der aktiven Schreibarbeit, aber fast rund um die Uhr mit gedanklicher Beteiligung. Was die Motivation betrifft….tja, da gab es zwei Punkte. Einen sehr persönlichen, der etwas damit zu tun hatte, dass ich das Bedürfnis hatte, eine Spur zu hinterlassen. In meinem Alter kann man ja nicht mehr von einer unbegrenzten Lebenszeit ausgehen. Und die Vorstellung irgendwann mal zu gehen und eine wenn auch nur kleine, aber deutliche Spur zu hinterlassen, hatte etwas sehr Motivierendes. Aber es gab natürlich auch eine ganz sachliche Motivation. Ich habe in den gut dreißig Jahren, in denen ich mich beruflich mit Hundezucht auseinandergesetzt habe, auf der einen Seite selbst so viel gelernt und erfahren und auf der anderen Seite so viel an Unwissen auf Seiten derer, die aktiv an der Hundezucht beteiligt sind, erlebt, dass es mir sinnvoll erschien, mein Wissen so zu Papier zu bringen, dass zumindest jeder, der sich mit den theoretischen Grundlagen der Hundezucht vertraut machen will, auch die Möglichkeit dazu hat.
Wie kann man Schaden verhindern?
Frage: Für weitere Fragen in diesem Interview habe ich mich auf ein Kapitel in Ihrem Buch konzentriert, der Populationsgenetik, da ich ein echtes Verständnis dieser Dynamiken als elementar in der Hundezucht sehe.
“Züchten heißt in Populationen zu denken, Züchten heißt in Generationen zu denken” sind Ihre einleitenden Worte in diesem Kapitel. Ein Züchter trägt somit die Verantwortung nicht nur für die eine Verpaarung über die er entscheidet, sondern auch für die Auswirkungen, die diese Verpaarung auf die Gesamtpopulation haben kann. In der Shar Pei Zucht gibt es einige sehr gewissenhafte, seriöse Züchter, aber noch mehr Vermehrer und Züchter, ohne fundiertes Wissen über Zucht, Genetik oder der Rasse an sich. Wie können die zahlenmäßig unterlegenen, seriösen Züchter dem Schaden, dem die gesamte Population ausgesetzt ist entgegen wirken, vor allem, da die Anzahl an Welpen, die aus wirklich seriösen Zuchten stammen gering ist?
Antwort: Das ist eine Frage, die sich aus meiner Sicht nicht wirklich beantworten lässt. Denn sie betrifft den Teil der Hundezucht, den ich ja auch in meinem Buch als den „weniger genetisch als soziologisch“ beeinflussten Teil des Zuchtgeschehens bezeichnet habe. Die Motivation zur Hundezucht beruht in vielen Fällen nicht auf dem ehrlichen Bemühen um die Erhaltung bzw. Verbesserung einer Rasse. Da spielen emotionale, finanzielle, prestigebezogene und auch sehr naive Punkte eine Rolle. Das Einzige, das man diesem Problem entgegensetzen kann, ist Überzeugungsarbeit auf sachlicher Ebene. Dazu soll mein Buch beitragen – das setzt aber zumindest die Bereitschaft der Beteiligten voraus, sich mit der Materie sachlich auseinanderzusetzen.
Flaschenhals in der Rassehundezucht
Frage: Die moderne westliche Shar Pei Zucht hat eine kurze Geschichte. Fast alle Shar Pei außerhalb von China lassen sich auf eine handvoll Hunde in Hong Kong aus den 60er und 70er Jahren zurückverfolgen. Wenige dieser Hunde waren reinrassig oder entsprachen optisch dem alten chinesischen Standard. Um die Rasse vor dem vermeintlichen Aussterben zu bewahren begann dort die Zucht mit dem Ziel der Reinrassigkeit mit einem Hauptaugenmerk auf Hunde mit einem ausgeglichenem Temperament. Die westliche Rasse entstand also aus einer genetischen Flaschenhals Situation. Somit ist die genetische Varianz der Rasse sehr gering. Welche Auswirkungen kann dies auf Dauer für eine geschlossene Zuchtpopulation haben?
Antwort: Ein genetischer Flaschenhals ist für jede Population ein Problem, insbesondere dann, wenn nach dem Falschhals in einer geschlossenen Population weitergezüchtet wird. Denn selbst wenn man die Population zahlenmäßig vergrößert, kann es zu keiner Erweiterung der genetischen Vielfalt kommen. Im Gegenteil, die genetische Varianz wird von Generation zu Generation immer geringer und dieser Prozess geht immer schneller vor sich, je kleiner eine Population ist. Der Grund dafür ist ganz einfach. Jeder Hund, der nicht zur Zucht verwendet wird und daher keine Nachkommen hat, hat ein oder mehrere Gene, die andere Hunde der Population nicht tragen. Und diese Gene gehen der Population unwiderruflich verloren. Die einzige Möglichkeit die genetische Vielfalt wieder zu vergrößern, wären Einkreuzungen, die aber in der Rassehundezucht ja streng verpönt sind.
Die Folgen dieser immer geringer werdenden genetischen Vielfalt ergeben sich einerseits aus der häufigeren Homozygotie von Schadgenen, auf der anderen Seite durch eine Verschlechterung der Anpassungsfähigkeit der Hunde. Gehäuftes Auftreten von genetischen Defekten, erhöhte Anfälligkeit gegen Infektionserkrankungen, aber auch Unverträglichkeiten, Autoimmunerkrankungen, Krebserkrankungen, verringerte Fruchtbarkeit, reduzierte Lebenserwartung sind die zum Teil ja schon unübersehbaren Folgen.
Populäre Deckrüden in kleinen Populationen
Frage: Das “Popular Sire Syndrom” ist ein kontrovers diskutiertes Thema. Darunter versteht man einen populären Deckrüden, der überproportional oft zum Decken genutzt wird. Dieses führt zu einer weiteren Einschränkung der genetischen Varianz, die beim Shar Pei an sich schon gering ist. Das Inzuchtniveau der Gesamtpopulation steigt an und ein oder mehrere Gendefekte können sich weit in der Population verbreiten, falls der Deckrüde heterozygot für diese ist. Welche wären die Vorteile eines Popular Sire?
Antwort: Einen wirklichen Vorteil eines Popular Sires in einer kleinen geschlossenen Hundepopulation kann ich nicht sehen. In ausreichend großen Populationen könnte man allenfalls einen Vorteil darin sehen, dass eine große Zahl von Nachkommen eines Rüden eine gute Informationsquelle über sein genetisches Potential aber vor allem auch über seine allenfalls vorhandene genetische Belastung darstellt. Das würde allerdings voraussetzen, dass auch bei einem möglichst großen Teil seiner Nachkommen entsprechenden Informationen über ihren Gesundheitszustand vorliegen. Leider ist aber genau das in der Hundezucht kaum jemals gegeben.
Inzucht, Inzestzucht und Linienzucht
Frage: Den Abschnitt über Inzuchtresistenz und Genetic Purging habe ich mit sehr großem Interesse gelesen. Bei dem Wort Inzucht klingeln bei den meisten Züchtern direkt die Alarmglocken. Alleine deswegen sollte man sich mit dem Thema viel mehr beschäftigen, da es ja vor allem die negativen Konsequenzen sind, vor denen wir uns fürchten. Da die Begriffe Inzucht, Inzestzucht und Linienzucht oft verwechselt werden, könnten Sie uns diese kurz erklären?
Antwort: Diese drei Begriffe sind Bezeichnungen bzw. Definitionen aus dem Tierzuchtlehrbuch. Der Begriff Inzucht ist definiert als jede Paarung, bei der die Paarungspartner näher miteinander verwandt sind als zwei zufällig aus der Population gewählte Tiere.
Linienzucht ist eine genauer geplante Form der Inzucht, bei der üblicherweise Paarungen innerhalb einer kleineren Gruppe von Tieren einer Rasse durchgeführt werden. Bei Linienzucht erfolgen oft Paarungen von Rüden mit weiblichen Nachkommen aus der zweiten oder dritten Generation. Linienzucht erfolgt im Allgemeinen auch in Kombination mit gezielter Selektion auf bestimmte Merkmale.
Unter Inzest versteht man die Paarung von Verwandten ersten Grades, also Paarungen zwischen Vater und Tochter, Mutter und Sohn sowie zwischen Vollgeschwistern.
Genetic Purging als konsequente Richtung?
Frage: Sie sagen, dass je häufiger ein rezessives Defektgen in einer Rasse vorhanden ist, dieses bei einem definiertem Inzuchtniveau auch häufiger homozygot wird und zu einer phänotypischen Manifestation führt. Populationen mit einer solch hohen genetischen Bürde vertragen somit nur ein sehr geringes Mass an Inzucht, hingegen haben Populationen mit einer geringen genetischen Bürde eine viel höhere Toleranz. In diesem Zusammenhang weisen sie auch auf zusätzliche Faktoren, wie Umwelteinflüsse hin, die zu einer unterschiedlichen Toleranz von Inzucht führen kann. Ein Mechanismus ist das Genetic Purging (genetische Reinigung). Inwieweit kann diese von Züchtern gezielt gesteuert werden und ist dieses sinnvoll?
Antwort: Genetic Purging oder, wie der analoge Fachausdruck in der Tierzucht lautet – Massenselektion - wäre eine sehr sinnvolle Maßnahme in der Rassehundezucht, die ja auch in vielen Fällen mit mehr oder weniger Konsequenz durchgeführt wird. Es bedeutet nicht mehr als dass Hunde, die Merkmalsträger eines genetischen Defekts sind, grundsätzlich nicht in der Zucht eingesetzt werden sollen. Hält man diese Maßnahme konsequent durch kann man damit genetische Defekte zwar nicht aus einer Population eliminieren, aber man kann sie auf einer sehr geringen Frequenz halten.
Dazu gibt es ein schönes Beispiel aus der Zucht vom Irish Terrier. Ein in dieser Rasse früher sehr häufiger genetischer Defekt, eine als „Corny Feet“ bezeichnete Hyperkeratose der Pfotenballen, wurde durch eine relativ einfache Selektionsmaßnahme, nämlich eine Pfotenkontrolle bei allen Irish Terriern, die zu einer Ausstellung kamen, auf einen ganz geringen Prozentsatz reduziert. Seit Kurzem gibt es für diesen Defekt einen Gentest, und die ersten Ergebnisse zeigen, dass das Defektgen nur mehr in genau der Häufigkeit in der Rasse auftritt, die auf Basis der Massenselektion zu erwarten war.
Kann man von der Nutztierzucht lernen?
Frage: Als letztes möchte ich noch gerne den Bereich Kreuzungen ansprechen, weil dieses ebenfalls ein Tabu Thema in der Rassehundezucht ist. Wenn man sich anschaut, wie sich das Spektrum der genetischen Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten erweitert hat, am Beispiel des westlichen Shar Pei sieht man das mehr als deutlich, dann stellen sich bei seriösen Züchtern Fragen, wie sie ihre Rasse noch retten können. Der Zusammenhang zwischen einer immer kleiner werdenden genetischen Varianz und der Zunahme von genetischen Erkrankungen und Inzuchtdepressions-Erscheinungen sind offensichtlich. In der Nutztierzucht sind Kreuzungen jedoch ein sehr bewährtes Instrument. Was kann die Rassehundezucht von der Nutztierzucht lernen?
Antwort: Die Hundezucht sollte einfach mal aufhören, Reinrassigkeit als Dogma und Kreuzungen als grundsätzlich Böses zu sehen. Kreuzungszucht ist, genau wie Inzucht, ein züchterisches Instrumentarium, das Vorteile und Nachteile hat. Die Hundezucht sollte anfangen, sich mit den theoretischen Grundlagen der verschiedenen Kreuzungssysteme auseinanderzusetzen und sich zu überlegen, welche Kreuzungsformen für welche Situationen geeignet sind.
Kreuzungen als mögliche Massnahmen?
Frage: Kontinuierliche und diskontinuierliche Kreuzungen sind zwei Möglichkeiten in der Zucht. Die eine ermöglicht die größtmögliche Erhaltung von genetischer Vielfalt innerhalb einer Population, die andere erweitert die genetische Varianz durch Einbringung von Genen einer fremden Population. Welche Optionen sind in welchen Situationen sinnvoll zu wählen? Können solche Massnahmen der Zunahme von genetischen Erkrankungen entgegenwirken?
Antwort: Kontinuierliche Kreuzungen könnte man in manchen Rassen praktisch auf der Stelle durchführen. Jede Rasse in der z.B. getrennte Farbschläge geführt werden bietet die idealen Voraussetzungen dafür. Diskontinuierliche Kreuzungen z.B. in Form einer gelegentlichen Immigrationskreuzung zur Erweiterung der genetischen Vielfalt, oder, das geniale Beispiel der Schaffung der LUA-Dalmatiner durch den amerikanische Genetiker Robert Schaible, der durch die Einkreuzung eines Pointers ein allen Dalmatiners fehlendes Gen immigierte und damit eine schwerwiegende Störung des Purinstoffwechsels eliminierte und die betroffenen Dalmatiner vor lebenslanger Diät und der Gefahr eines Harnröhrenverschlusses
Durch Harnsäuresteine bewahrt hat, sind einfach und leicht umsetzbare Möglichkeiten. Das Paradoxe ist allerdings, dass die LUA-Dalmatiner von der reinrassigkeitsgläubigen Zuchtverbandsgesellschaft als Mischlinge angesehen und daher nicht als Dalmatiner anerkannt werden.
Frage: Ihr Buch ist bisher nur auf Deutsch erschienen, gibt es Pläne für eine Englische Ausgabe?
Antwort: Nein für eine englische Ausgabe gibt es derzeit keine Pläne
Ich könnte Ihnen noch viel mehr Fragen, zu den vielseitigen Kapiteln in Ihrem Buch stellen. Doch das würde den Rahmen dieses Interviews leider sprengen.
Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich die Zeit genommen haben die Fragen so ausführlich zu beantworten.